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Zwischen Alarmismus und Passivität – wie gehen wir mit Kindern und Jugendlichen durch die Corona-Krise?

Wilhelmshaven 30.01.2021 – Von Christian Küper, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugend-
psychiatrie und Psychotherapie: Ängste vor einer Infektion mit dem unzureichend verstandenen neuartigen Covid-19-Virus, die massiven Umstellungen im Alltag belasten die meisten Menschen. Die rasche Abfolge von Veränderungen sowie die Aussicht auf eine in unserem Erleben lange Zeit der Unsicherheit überfordern viele. Politische Entscheidungen greifen weit ins Private ein und führen manchmal zu Zweifeln. Ebenso wie Erwachsene beeinflusst die Corona-Pandemie natürlich auch Kinder und Jugendliche emotional.
Ich möchte mit diesem Beitrag auf zwei Aspekte aufmerksam machen: Wie gehen wir als Gesellschaft mit unseren Kindern und Jugendlichen um? Denn ihre Bedürfnisse werden allzu oft anderen vermeintlich dringenderen untergeordnet. Und was brauchen Kinder und Jugendliche, um sich (psychisch) gesund entwickeln zu können?
Wichtig für Kinder und Jugendliche sind verlässliche Bezugspersonen, der Kontakt zu Gleichaltrigen, Anregungen für sportliche, intellektuelle, kulturelle und musische Freizeitbetätigungen. Vorhersehbare Abfolgen von Anreizen und Herausforderungen müssen Halt und Sicherheit solange bieten, bis Heranwachsende sie aus eigenem Antrieb überwinden können. Es braucht Vorbilder zur Integration und Akzeptanz der ungeliebten „Schattenseiten" in jedem Menschen – Modelle zur Auseinandersetzung mit Tendenzen zu beispielsweise Aggression oder Bequemlichkeit, die in jedem von uns stecken. Jugend braucht Zeit – und Gelegenheit. Sie braucht den sozialen Austausch, muss und darf sich ausprobieren, das gesellschaftlich Gangbare aushandeln, um die Persönlichkeit entwickeln zu können.
Bezüglich psychosozialer – negativer – Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche gibt es naturgemäß noch weniger belastbare Fakten als aus der „harten" naturwissenschaftlich orientierten Forschung zu Virenstämmen und Infektionsketten. Meines Erachtens neigt die Berichterstattung zur Fokussierung auf „Opfer" auf der einen Seite, wenn es z. B. um die gestiegene häusliche Gewalt oder ausbleibende Schulspeisung geht. Auf der anderen Seite gibt es die jugendlichen „Täter" als Infektionsherd, welche die Großeltern indirekt – aber qualvoll töten – nachdem sie feiern waren, im Ausland oder auf Bildungsansprüchen beharren.
An dieser Fokussierung kritisiere ich zwei Aspekte: Erstens wurde das Thema Chancengleichheit für Kinder – sowohl in Bezug auf materielle Güter als auch in Form von verlässlichen Bezugspersonen – politisch schon vor der Krise nicht adäquat behandelt. Jetzt spüren wir umso stärker die Konsequenzen! Zweitens gibt es zwischen den Polen von vermeintlichen Opfern und Tätern alle anderen Kinder und Jugendliche, die mit ihren Bedürfnissen kaum Beachtung oder nahezu fahrlässig verzögert Beachtung finden. Und dass Pubertierende beispielsweise in der Entwicklung ihrer eigenen sexuellen Identität arg beschnitten werden, weil sie sich nicht mehr treffen dürfen, darüber wird gar nicht gesprochen.
Die Patienten, die momentan zu uns kommen, berichten z.B. diffus von Ängsten wie körperlichen Beschwerden ohne fassbare Ursache. Im Gespräch manifestiert sich die mangelnde zeitliche Strukturierung bis zur Perspektivlosigkeit, fehlendem Sinn. Sportangebote wie Wettkämpfe fallen aus, einfach jemand treffen oder „abhängen" geht nicht. Treffen mit der älteren Generation – wenn dann mit schlechtem Gewissen oder weniger spontan. Kinder und Jugendliche verbringen viel und manchmal zu viel Zeit in sozialen Netzwerken, gerade Jungen beschäftigen sich mit Online-Konsolenspielen. Die binäre Logik (keine Treffen, Masken auf) erschwert den ohnehin mühsamen Prozess des Erlernens und Aushandelns von Grenzen: Wenn ich mich schon verbotenerweise treffe, dann kommt es aufs Kiffen oder den Drink zu viel auch nicht mehr an!
Um Missverständnissen vorzubeugen: Es gibt kein anerkanntes neues oder typisches psychisches Störungsbild a la „Heranwachsenden Corona-Syndrom". Vorsichtig könnte man Analogien zu (erheblichen) Anpassungen bei Umstellungen heranziehen. Vor allem wenn diese in kurzer Zeit und von außen herangetragen werden. Auf Stress reagieren Gesunde kurzzeitig mit erhöhter Leistung. Chronischer Stress führt zu vegetativen Auffälligkeiten, Schlafstörungen, affektiver Labilität, Resignation. Alle – insbesondere Kinder und Jugendliche – benötigen jetzt mehr „Inseln" der Erholung, Geduld, Fehlertoleranz, Zeit. Emotionen vorzuschreiben geht schon in Trennungsfamilien wie vor anstehenden Umzügen schief – wenn angeblich die Kinder vor (für die Erwachsenen) schwierigen Wahrheiten „beschützt" werden sollen.
Ich wünsche einen ehrlichen Umgang mit Kindern. Jugendliche vertragen das Eingeständnis der älteren besser, dass diese auch ratlos sind. Dass solche schlechten Gefühle aber aushaltbar sind und zum Leben gehören. Nicht alles kann sofort, auf nur eine Art und für immer gelöst werden. Auch wenn sich Politiker mit scheinbar einfachen Lösungen überschlagen! Dazu braucht es gemeinsame Zeit, ein Ausprobieren, ob der andere gerade im Wald oder um den See spazieren mag – oder vielleicht einmal wieder ein gemeinsames Spiel bevorzugt. Klare Aufgabenteilungen, dabei Flexibilität, Augenmaß auch für die eigenen Grenzen; weiter ein Zutrauen, dass Kinder ihrem Alter gemäß mit anpacken wollen – genauso wie Verständnis: wenn einmal nichts mehr geht. Alte Kontakte fernmündlich auffrischen – auch in den vier Wänden nicht buchstäblich aufeinander hocken! Nicht andere belehren – eher zuhören und das andere als Anregung auffassen!
Sicher gibt es keine einfachen Rezepte. Dies ist kein Aufruf, Regeln zu brechen. Ich fordere zum Denken und miteinander Sprechen auf: darüber was die Pandemie gerade für Jugendliche und Kinder bedeutet! Unsere Gesellschaft sollte sie nicht als egoistisch stigmatisieren oder verurteilen, wenn sie sich treffen wollen und den sozialen Austausch suchen. Das ist notwendig für die Persönlichkeitsentwicklung. Kinder und Jugendliche brauchen unsere Unterstützung, die Auseinandersetzung untereinander und mit uns. Und sie brauchen Freiräume.

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